Das begrabene Unrecht

 

Von Friederike Lübke

Der ehemalige Friedhof wirkt wie ein Park. Wo früher Menschen in anonymen Gräbern verscharrt wurden, laufen heute Jogger über die Wege, Anwohner führen ihre Hunde aus. Nirgendwo ein Hinweis auf die Toten, nirgendwo eine Erinnerung daran, wie sie ums Leben kamen.

Die Pfarrerin und Religionslehrerin Irmela Orland und ihre Schüler des Berliner Georg-Herwegh-Gymnasiums haben beschlossen, dagegen ein Zeichen zu setzen. 120 Namen von Menschen, die hier begraben liegen, haben sie recherchiert. Die Liste ist lang und trotzdem nicht vollständig, denn auf dem Gelände der  „Wittenauer Heilanstalt“, wie die Klinik für psychisch Kranke zur NS-Zeit hieß, sind noch sehr viel mehr Menschen gestorben und begraben worden.

An sie zu erinnern, ist Irmela Orland ein großes Anliegen. Seit fast 25 Jahren erforscht sie mit Schülergruppen die Geschichte des Friedhofs. Immer wieder hat sie die Schüler im Religionsunterricht selbst recherchieren lassen. Nur eine Gedenkstätte zu besichtigen, bringe nichts, sagt sie. Die Schüler müssten selbst etwas herausfinden. Und das haben sie.

Zum Beispiel, wie stark die Zahl der Todesfälle in der NS-Zeit angestiegen ist. 1933 gab es nur eine Beerdigung auf dem Anstaltsfriedhof. 1934 waren es zwei. 1945 mehr als 1000. Insgesamt 4607 Patienten der Wittenauer Heilstätten sind in den Jahren 1939 bis 1945 gestorben. Dass sie gezielt getötet wurden, kann man zwar schwer beweisen – Personal- und Verwaltungsakten der NS-Zeit sind nicht vollständig, den Friedhofsplan hat Irmela Orland vergeblich gesucht – aber vieles deutet darauf hin. In den Wittenauer Kirchenbüchern und den Krankenakten der Patienten, die erst seit wenigen Jahren im Landesarchiv zugänglich sind, haben die Schüler auffallend häufig dieselbe Todesursache gelesen: „Herzmuskelentartung“ oder „Gehirnaderverengung“. Von Hunger und Kälte in der Anstalt wird berichtet. Vermutlich lag dies nicht nur am Mangel der Kriegsjahre: „Wir gehen davon aus, dass die Patienten durch Nicht-Behandeln und Hungerrationen ums Leben gebracht wurden“, sagt auch Christina Härtel von der Ausstellung „Totgeschwiegen“, die seit 1988 Texte und Fotos aus der Geschichte der Wittenauer Heilstätten zeigt. Am Haupteingang hängt eine Gedenktafel für die Opfer des Nationalsozialismus. Um den Friedhof, auf dem die Toten liegen müssen, hat man sich in der Ausstellung bislang allerdings nicht gekümmert.  (...)
DIE KIRCHE ,6. April 2014